Grauzonen - Rechte jugendliche Lebenswelten

Klassismus / Sozialchauvinismus: 
»Lasst sie die Abflüsse sauber machen und wenn sie sich weigern, dann weg mit ihrer Stütze«

Klassismus, was wir synonym mit dem Begriff Sozialchauvinismus verwenden, beschreibt die Deklassierung, Diskriminierung, Unterdrückung, Ausbeutung und Marginalisierung von Menschen aufgrund einer sozial prekären Lebenslage, ihrer sozialen Herkunft oder zugewiesener Zugehörigkeit zu einer »Unterschicht«. Er trifft auch Menschen, in ­deren Arbeitsleistung kein produktiver Wert gesehen wird. Davon betroffen sind diejenigen, deren Wertvorstellungen und Lebensstile nicht vereinbar scheinen mit dem Arbeitsethos der westlichen Industriegesellschaften, der »Schaf­fenskraft«, Kontinuität und Disziplin verlangt.

 

IchbinThiloDas SPD-Mitglied und ehemalige Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank Thilo Sarrazin veröffentlichte 2010 das Buch »Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen«. In dem Buch vertritt Sarrazin die Meinung, dass die Bevölkerungszunahme von Menschen muslimischen Glaubens sowie eine wachsende »Unterschicht« zum »Zerfall« Deutschlands führen würde. So erkennt er bei ökonomisch schlecht gestellten Menschen keine mate­ri­elle, sondern lediglich »geistige und moralische Armut« (Deutschland schafft sich ab, S.112). Bis Januar 2012 wurden von dem Buch 1,5 Millionen Exemplare verkauft. Auf die Kritik an dem Buch entstanden vor allem in den Sozialen Netzwerken Kampagnen, in denen Zehntausende Menschen den Thesen Sarrazins zustimmten und ihn als Vorkämpfer der Wahrheit und der Meinungsfreiheit feierten. »Deutschland sagt: Ich bin Thilo« war ein Motto dieser Kampagnen. Signifikant war und ist dabei die große Anzahl junger Menschen, die sich als Anhänger*innen von Thilo Sarrazin zu erkennen gaben und geben.

Die Kritik an Thilo Sarrazin, Autor des Buches »Deutschland schafft sich ab«, fokussiert meist dessen biologistische und rassistische Ausführungen, jedoch geht es Sarrazin im Kern darum, Menschen nach einer strikt ökonomischen Kosten-Nutzen-Rechnung zu kategorisieren und die vermeintlich Leistungsunwilligen und Leistungsunfähigen von der Teilhabe an Rechten und Ressourcen (noch weiter) auszuschließen. Sarrazin repräsentiert zwar keine Jugendkultur, doch der Blick in die Sozialen Netzwerke zeigt, dass er unter rechten Jugendlichen zeitweise als eine Art Popstar gehandelt wurde. Er gilt dort als einer, der »sich etwas traut« und der »endlich sagt, wie es ist«.

Kein typisches Merkmal der Rechten

Christian Baron und Britta Steinwachs verweisen in ihrem Buch »Frech, Faul, Dreist« (2012) darauf, »dass die Diskriminierung von Menschen (allein) aufgrund des Sozialstatus im Gegensatz zum Rassismus in der sozialwissenschaftlichen Debatte hierzulande bisher allzu wenig berücksichtigt wird und in der deutschen Gesellschaft noch kein wirkliches Bewusstsein für klassenbedingte Diskriminierung existiert.« Klassismus reicht bis hinein in alternative Kreise und ins sogenannte Bildungsbürgertum. Auch dort äußert sich häufig die Ablehnung, bisweilen auch Verachtung derer, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer familiären Situation als »bildungsferne« und »sozial schwache« Schicht ausgemacht werden. Dass Menschen aus ökonomisch schwa­chen Verhältnissen als »sozial schwach« bezeichnet werden, behauptet einen Zusammenhang zwischen Armut und sozialen Defiziten, überspitzt: Arme seien asozial.

In der Alltagssprache finden sich viele abschätzige Ausdrücke, die klassistische Motive und Zuschreibungen enthalten und bis hinein in linke Kreise oft unwidersprochen bleiben, wie »Assi«, »Penner« oder »Pöbel« (vom Ursprung her »das gemeine Volk«). Der weithin akzeptierte Begriff »Proll« ist eine Ableitung von Proletariat, den lohnabhängigen Ar­bei­ter*innen, die keinen Besitz an Land und Produktionsmitteln haben. »Proll« wird assoziiert mit einem Menschen, dessen Umgangsformen als roh, unkultiviert und eben »pöbelhaft« empfunden werden. Dass abwertende Bezeichnungen für Menschen aus angeblich unteren sozialen Schichten zur »ganz normalen« Beschimpfungskultur zählen und kaum reflektiert werden, zeigt eindrücklich, wie wenig gesellschaftliches Problembewusstsein für Klassismus existiert.

Klassistische Zuschreibungen und Vorurteile

Frech, Faul, Dreist sind, wie Baron und Steinwachs hervorheben, die Schlagworte der Debatten gegen deklassierte Menschen. Sie zielen gleichermaßen gegen Geflüchtete, Sinti, Roma, Wohnungs- und Erwerbslose. Häufig ist Klassismus mit anderen Diskriminierungsformen wie Rassismus, Antiziganismus oder Ableism verbunden.

Treten deklassierte Menschen selbstbewusst für ihre Interessen ein, wird dies als dreist und unverschämt wahrgenommen. Verweisen sie weniger selbstbewusst auf ihre prekäre Situation wird ihnen vorgeworfen, zu »jammern« und untätig zu sein. In jedem Fall wird ­­ihr Verhalten als unwürdig wahr­genommen. Arme könnten nur Würde erlangen, wenn sie gesellschaftlich unsichtbar blieben, kei­ne Ansprüche stellten, sich fügten, unterwärfen und grundsätzlich leistungsbereit zeigten.

Um Klassismus zu verdeutlichen, braucht es keinen Blick in Bücher von Thilo Sarrazin oder dezidiert rechte Musiktexte. Schon im Hardcore finden sich eklatante Beispiele. Die Hardcore-»Kult­band« Agnostic Front, gleichzeitig eine Vertreterin des »American Oi«, spielte in der Vergangenheit unter dem Label »Good Night white Pride« und erwarb sich darüber eine antifaschistische »Credibilty«. Sie tritt vielfach in alternativen Läden auf. Ihr Song »Public Assistance« stammt aus dem Jahr 1986 und wurde mindestens bis 2014 live vorgetragen:

»You spend your life on welfare lines, or looking for handouts why don’t you go find a job. You birth more kids to up your checks, so you can buy more drugs, cash in food stamps and get drunk. Uncle Sam takes half my pay, so you can live for free. I got a family and bills to pay, no one hands money to me. You can go to school for nothing, got that government grant get money in advance. When you’re sick from shooting up, Medicaid pays full portion. When little Maria gets knocked up, she gets a free abortion. How come it’s minorities who cry things are too tough. On TV with their gold chains claim they don’t have enough. I say make them clean the sewers, don’t take no resistance. If they don’t like it go to hell and cut their public assistance.«

Übersetzung des Liedtextes

»Du verbringst dein Leben in der Schlange vor dem Sozialamt oder schnorrst dich durch. Wieso gehst du nicht los und suchst dir Arbeit? Du setzt immer mehr Kinder in die Welt, um an mehr Geld zu kommen, damit du mehr Drogen kaufen kannst, deine Lebensmittelgutscheine verkaufen kannst, um dich zu besaufen. Die Regierung nimmt mir die Hälfte meines Lohnes weg, damit du leben kannst, ohne dafür zu zahlen. Ich habe eine Familie, muss Rechnungen zahlen. Niemand gibt mir Geld, und du kriegst Bildung ohne zu bezahlen. Du kriegst staatliche Hilfen und das Geld im Voraus. Wenn du krank wirst vom Fixen, dann übernimmt das staatliche Gesundheitswesen die komplette Behandlung. Und wenn die kleine Maria schwanger wird, dann kriegt sie die Abtreibung gratis. Wieso sind es immer die Minderheiten, die zu weinen anfangen, wenn das Leben zu schwer wird? Du siehst sie mit ihren Goldketten im Fernsehen darüber klagen, dass sie nicht genug haben. Ich sage, lasst sie die Abflüsse sauber machen und wenn sie sich weigern, dann zur Hölle mit ihnen und weg mit ihrer Stütze.«

 

Der Liedtext von Agnostic Front enthält vieles, was Klassismus ausmacht:

  • die Ansicht, wonach Deklassierte einen parasitären Lebensstil hätten,
  • das vorurteilsbeladene Bild der kinderreichen Familien mit Alkohol- und Drogenproblemen. Daran gekoppelt ist der Vorwurf eines moralisch tief verwerflichen Verhaltens, hier in der ­Behauptung ausgedrückt, diese würden ihr Kindergeld in Drogen umsetzen,
  • die Ansicht, prekäre Lebens­situationen seien selbst verschuldet und dass sich die Betroffenen nicht selbst darum bemühen würden, diese zu verbessern,
  • der Vorwurf, dass die Deklassierten jammern und sich selbst bedauern würden,
  • das Unverständnis darüber, dass »Minderheiten« ständig Rücksichtnahme auf ihre Bedürfnis­se einfordern würden,
  • die Empörung darüber, dass Deklassierte gesellschaftlich (so­gar im Fernsehen) in Erscheinung treten,
  • die Unterstellung, dass Deklassierte betrügen würden, beispielsweise durch die Behauptung, sie könnten gar nicht arm sein, da sie Goldketten trügen.

Darüber wird die Forderung nach weniger Rücksichtnahmen und Fürsorge sowie »härterem Durchgreifen« legitimiert. Agnos­tic Front plädieren für Demütigung durch aufgezwungene Arbeit (»Abflüsse reinigen«). Was mit den Menschen geschehen soll, die sich diesen Maßnahmen verweigern, davon hat die Band eine klare Vorstellung: »go to hell and cut their public assistance«, übersetzt: »zur Hölle mit ihnen und weg mit ihrer Stütze.«

Männlicher Arbeitsethos

Dieser und viele andere klassistische Liedtexte und Interviewaussagen sind geprägt von der un­mittelbaren Gegenüberstellung der Bedürftigen mit der eigenen Person und der detaillierten Aufrechnung des Gebens und Nehmens. Als Selbstbild erscheint der hart arbeitende, ehrliche (Steuern zahlende) und verantwortungsbewuss­te Mann und Familienvater. So kommt auch die Betrachtung des Klassismus nicht ohne den spezifischen Blick in die Männerwelt aus. Voran getragen wird ein Arbeitsethos, der die Konstruktion hegemonialer Männlichkeit stützt. Der Mann findet seine Erfüllung, Aufgabe und Identität im tatkräftigen Anpacken für Gemeinschaft und Familie und sichert sich darüber seine privilegierte gesellschaftliche Stellung.

Dieser Arbeits- und Leistungsethos wird in Spektren des Oi, des Metal und im entpolitisierten Hardcore auffallend häufig betont. Dies erklärt sich darüber, dass sich Oi, Hardcore und partiell auch Metal als Gegenkultur mit ästhetischen Normbrüchen und rebellischen Attitüden inszenieren, die jedoch bei vielen Pro­tagonist*innen mit keiner gelebten Realität (mehr) in Verbindung stehen. Das Antifaschistische ­Infoblatt erkennt in »Grauzone«-Musikern des Oi auffallende ­Gemeinsamkeiten: »Ehen oder Lebenspartnerschaften mit tradierten Geschlechterrollen, Arbeitsethos und der Stolz darauf, als Punk oder Skin auf ›seiner‹ Lohnarbeit akzeptiert zu sein – selbst stilisierte ›Außenseiter‹, die nach Anerkennung und Teilhabe in der so verhassten Gesellschaft geradezu betteln. Weil sie zu dieser gar keinen Gegenentwurf haben.« 1

So dient der zur Schau gestellte Arbeitsethos und die Verachtung der angeblich Unfähigen und Arbeitsfaulen dazu, sich in und gegenüber der Gesellschaft des eigenen produktiven Wertes und des damit verbundenen Status zu versichern. Der Arbeitsethos ist an die Vorstellung »ehrlicher« und »richtiger« Arbeit geknüpft, der an erster Stelle Tat- und Schaffenskraft voraussetzt – und somit Leistungskriterien, die viele nicht erfüllen könnten: Als schwach empfundene und behinderte Menschen ebenso wenig wie »vergeistigte« Menschen. Die Konsequenz dieses Denkens ist Klassismus in Verbindung mit Intellektuellenfeindlichkeit und/oder Behindertenfeindlichkeit.

Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse

Die Beispiele aus Hardcore und Oi dürfen nicht zur pauschalen Beschreibung dieser Szenen dienen. Die Hetze gegen Erwerbslose und Arme ist dort kein durchgängiges Muster. Linke Hardcorebands formulieren häufig Kritik an kapitalistischen Verhältnissen und eben nicht an den Armen. Selbst in manchen Oi-Texten wird der Arbeitsethos den nicht nur wochenendlichen Alkoholexzessen nachgeordnet.

Dennoch liefern Bands wie Agnostic Front den Soundtrack für Menschen (mehrheitlich Männer), die einen Statusverlust fürchten, sich stets benachteiligt und betrogen sehen, jedoch nicht die Verhältnisse in Frage stellen (wollen), die Ungleichheit, Armut und Marginalisierung erzeugen. Und die deswegen nach unten treten, beziehungsweise ein »unten« konstruieren, um sich selbst aufzuwerten. Es gibt kein Verständnis davon und kein Wissensinteresse daran, dass viele Menschen aus den »Unterschichten« kaum Zukunftsperspektiven haben, die über Leben und Arbeit in prekären Verhältnissen hinausreichen, dass Armut oft an Klasse und Milieu gebunden ist und dass die Chancen gesellschaftlich aufzusteigen keinesfalls für alle gleich sind. Armut und die Marginalisierung der Armen wird nicht als Resultat der Verteilungsungerechtigkeit in kapitalistischen Verhältnissen gesehen, sondern als ein individuell verschuldetes und zu lösendes Problem. Die Verachtung der Armut ist tatsächlich die Verachtung der Armen. So ist der Musiktext von Agnostic Front ein brachialer Ausdruck einer gesellschaftlichen Entsolidarisierung, und er reproduziert die kapitalistische Verwertungslogik, die die Menschen im Wettstreit um die nach unten immer knapper werdenden Ressourcen in immer stärkere Konkurrenzverhältnisse setzt.

 1 Kult der Beliebigkeit, Antifaschistisches Infoblatt Nr. 91, Frühjahr 2011

Tipps zum Weiterlesen:

Christian Baron, Britta Steinwachs: Frech, Faul, Dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Leser*innen, Münster 2012

Andreas Kemper, Heike Weinbach: Klassismus. Eine Einführung, Münster 2009, https://andreaskemper.wordpress.com/

blog von Andreas Kemper (s.o.) mit einigen online verfügbaren Texten

http://www.migrazine.at Sehr informative Seite aus Österreich

 

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